2. November 2018

Zu Besuch im Kopf eines Künstlers

Folgender Artikel wird in der aktuellen Ausgabe des Literatur-Magazins "Allmende" abgedruckt. Mit einer recht geringen Auflage von 2.000 Stück wird er leider keine grosse Verbreitung finden. Da ich ihn aber recht gelungen finde und froh darüber wäre, wenn ein paar mehr Leute den Text lesen würden, wollte ich ihn Euch nicht vorenthalten. Es gilt wieder, Kommentar sticht Schweigen! Bitteschön:

Zu Besuch im Kopf eines Künstlers
von Uli Oesterle

Der Begriff Graphic Novel ist für heimische Comiczeichner oft ein rotes Tuch. Dürftig gekritzelte Machwerke werden von der Presse gefeiert und mit Preisen überhäuft, weil sie sich halbherzig eines heiklen politischen Themas angenommen oder die Hosen runtergelassen haben. Diese Ansicht kann ich nicht vollständig teilen.
Mein Name ist Uli Oesterle. Ich schreibe und zeichne Graphic Novels UND Comics. Auch ich erhielt Preise für meinen Comic Roman „Hector Umbra“ und die noch nicht erschienene Graphic Novel „Vatermilch“.

An dieser Stelle gewähre ich einen Blick über meine Schulter - auf leere Blätter, tiefsitzende Zweifel, Erfolgserlebnisse und alltägliche Kämpfe am Zeichentisch. Ferner beleuchte ich Schaffensprozesse, wirtschaftliche Sachzwänge und familiäre Nebenwirkungen.
 

Der Unterschied zwischen Comic und Graphic Novel 
Der formale Aspekt: Wiegt man eine Graphic Novel in Händen, fällt einem sofort ihr Gewicht auf. Anders als der herkömmliche Comic, ist sie zwar kleiner, aufgrund der bedeutend höheren Seitenzahl aber voluminöser. Hardcover und Buchrücken sind dezent typographiert, die Innenseiten fadengebunden. Im Gegensatz zum Comic wird Farbe sparsam verwendet. Schwarz-Weiss verspricht anspruchsvolle Inhalte.
Die Graphic Novel tut wie ein Buch. Vielleicht einer der Gründe für die wachsende Akzeptanz? Leser, die sich nie zuvor in einen Comicladen verirrt haben, werden nun im Buchhandel von der erwachsenen Gattung der Bildergeschichten angenehm überrascht. 

Inhaltsstoffe: Der eherne Leitsatz „Form follows Function“, findet auch in der Graphic Novel Anwendung - die Zeichnung ordnet sich dem Inhalt unter. Im Comic trifft das nicht immer notwendigerweise zu. Biografische, autobiografische, historische oder fiktionale Stoffe, die gesellschaftlich relevantes aufarbeiten, herrschen vor. Seelische Abgründe und einschneidende Erfahrungen klaffen als offene Wunden zwischen den Seiten. Der Graphic Novel Autor trägt seine Geschichte meist jahrelang im Herzen, bevor sie den Weg auf´s Papier findet. Zurecht spricht man von Eigen-Therapierung.
Trotz aller Unterschiede existieren auch Gemeinsamkeiten. Beide Formate sind auf ihre Art wunderbar, nutzen Sprechblasen, wurden von Künstlern erdacht, gezeichnet und erzählen Geschichten durch einer Aneinanderreihung von Bildern, auch Panels genannt. Der grosse Held des amerikanischen Comics - Will Eisner, prägte dafür den Begriff sequentielle Kunst.

Eine kleine Schöpfungsgeschichte oder die sieben Stufen des Irrsinns
Schreiben: Glaubhaft und mitreissend kann nur erzählen, wer weiss worüber er schreibt und dabei den Leser nicht vergisst. Gute Autoren haben ihn während dem gesamten Arbeits-Prozess auf der Schulter sitzen und beantworten geduldig seine Fragen.
Die erste Phase des Schreibens gleicht einer wilden assoziativen Stoffsammlung, in der ich nach einem Plot suche, den ich irgendwo zwischen den Tasten meines Laptops zu finden glaube. Dabei werden reichlich Ideen und Dialogfetzen angeschwemmt, die sich später als unbrauchbar erweisen.
In diesem zerebralen Treibgut versuche ich den Kern der Geschichte dingfest zu machen und auf Szenen zu verteilen. Diese notiere ich stichpunktartig auf Karteikarten und schiebe sie so lange hin und her, bis sie an der richtigen Stelle platziert sind. Passen sie nicht in den Plot, fliegen sie raus. Mindestens die Hälfte davon landet im Müll. Was bleibt ist ein Skelett der künftigen Graphic Novel, an das ich Fleisch packe und überschüssiges Fett wieder wegschneide.
Die Entwicklung des Plots ist für mich die mit Abstand schwierigste Phase in der Produktion einer Graphic Novel. Manch Protagonist überlebt diesen langwierigen Prozess nicht. Ein Zeitraum zermürbender Zweifel, an deren Ende im günstigsten Fall eine vernünftige Erzählung mit Anfang, Mitte und Schluss steht. Das so entstandene Manuskript ist die Grundlage für alles Weitere. 

Character Entwicklung: Um Abwechslung in den Schreibprozess zu bringen, entwerfe ich schon nebenher erste Figuren. Spitze oder kleine Nase, klein und dick oder gross und schlaksig, lange Haare oder Glatze, Rock oder Latzhose…? Batallione möglicher Charaktere füllen meine Skizzenbücher. Habe ich mich endlich für einen Entwurf entschieden, zeichne ich die Figuren von allen Seiten. Formen und Mimik müssen zeichnerisch so verinnerlicht werden, daß  einzigartige Merkmale später im Storyboard leicht von der Hand gehen.  
Storyboard: Streng nach Manuskript zeichne ich nun winzige Einzelbilder in mein Skizzenbuch. Die flotten Miniatur-Skizzen heissen Thumbnails und bestimmen die Anzahl der Bilder pro Seite. Untereinander angeordnet, zeigen sie die Erzählung zum erstenmal im Bild. Neben jedes dieser Thumbnails notiere ich die zugehörigen Dialoge und sonstigen Text. So weiss ich schon vorher, wieviel Platz mir später für Sprechblasen, Erzählkästen und Illustrationen zur Verfügung steht. 

Layout: Im Layout verteile ich die Panels auf die Seiten, indem ich die Thumbnails nun grösser abzeichne. Hierbei finde ich heraus wieviel Raum jedes Panel einnimmt und ordne sie so an, daß Leserichtung und Gewichtung stimmen. Spätestens beim Lesen dieses Layouts kann man beurteilen ob Erzählung, Rythmus und Timing stimmig sind. Über eine gelunge Szene bin ich so beglückt, daß ich für die weitere Arbeit ausreichend motiviert bin. 
Vorzeichnung: Die fertig layouteten Seiten pause ich nun am Tablet auf einer darübergelegten Ebene durch. Dabei nehme ich letzte inhaltliche und zeichnerische Korrekturen vor. Die Comicseite ist hiermit digitalisiert. 
Reinzeichnung: Am Tablet tusche ich - so nennt man das saubere Anlegen der schwarzen Strichzeichnung und Flächen - die Seiten und füge dezente Farbflächen oder Graustufen hinzu.
Die Reinzeichnung - obwohl langwierig - ist der wohl angenehmste Teil des ganzen Projekts. Die kreative Denkarbeit ist abgeschlossen und die Seite nähert sich endlich der Fertigstellung. Danach fehlt nur noch das I-Tüpfelchen. Der Text, das sogenannte Lettering.
Lettering: Den Inhalt der Sprechblasen lettere ich in einem Layoutprogramm und benutze dafür meine selbst entworfene Schrift, deren Alphabet ich bequem mittels der Computertastatur abtippe - fertig. Die Datei geht in Druck, die Geburt des geistigen Kindes wird eingeleitet und der Künstler braucht Urlaub.
 

Zeit isst Geld
Der Künstler erhält vom Verlag nach Vertragsabschluss einen Vorschuss, der je nach Wohnort oder Familienstand unterschiedlich lange vorhält - in meiner Heimatstadt München zwei Monate. Also in etwa der Zeitraum, den ich benötige, um überhaupt in Schreibstimmung zu kommen. Die Auflagen im deutschen Graphic Novel Markt liegen zwischen 500 und 15.000 verkauften Exemplaren. Bei Tantiemen von durchschnittlich 10% des Nettoladenverkaufspreises, abzüglich der Steuer, rangiert man weit unterhalb des Existenzminimums.
Dem gegenüber stehen drei Jahre, die die Produktion einer 200-seitigen Graphic Novel in Anspruch nähme, könnte man Vollzeit daran arbeiten. Unglücklicherweise habe ich ganz nebenbei noch einen Beruf als professioneller Illustrator, der mir grosses Vergnügen bereitet, monatliche Kosten deckt und eine 40-Stunden-Woche gut ausfüllt. Ausserdem ist da meine Familie mit zwei Kindern.
Die Realisierung einer Graphic Novel muss sich also schon aus rein finanzieller Notwendigkeit dem Brotjob unterordnen und wird in Folge dessen oft monatelang unterbrochen. Was zur Folge hat, daß Abgabetermine immer wieder nach hinten verschoben und persönliche Werke beiläufig herausgeschwitzt werden - in Nachtschichten, an Wochenenden, im Urlaub oder während gelegentlicher Jobflauten. 
Dotierte Förderpreise, die mittlerweile von verschiedenen Stellen ausgelobt werden, sind eine erfreuliche Entwicklung. Diese Anerkennung ist äusserst motivierend und hilfreich. Aber leider können auch sie das Problem nur bedingt lösen, da die Preisgelder versteuert werden müssen und nach drei Monaten aufgebraucht sind.
Ein Modell könnten regelmässige monatliche Zuwendungen durch Mäzene oder staatliche Kulturtöpfe für die Dauer eines Projekts sein. Der Künstler könnte kontinuierlich an seinem Projekt arbeiten, ohne sich um Finanzen Sorgen machen zu müssen.
Gehören Sie zu einer der beiden Gruppen - Ja? Haben Sie vielleicht etwas Geld übrig, um in ein vielversprechendes Projekt zu investieren? Dann hätte ich da was für Sie…


Einen bildschönen Tag wünscht Euch,
Euer "Ulistrator".



1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

pimmel und hölle